Kennedy und MacMillan 'sind noch um vieles ärger als Hitler'. Dies Wort des Philosophen Bertrand Russell vom 15.4.1961 ist erschreckend. Wie kann er diese demokratischen, überdies an hohen Idealen sich ausrichtenden Politiker mit dem Diktator vergleichen, der für den schrecklichsten Völkermord der Geschichte verantwortlich ist? Natürlich hat er Unrecht. Jedenfalls, soweit es um die moralische Wertung geht. Denn Hitler hat den Völkermord gewollt, Kennedy aber hat den Weg in eine demokratische, soziale Gesellschaft gewiesen. Wie tragisch, dass die Attentate auf Hitler scheiterten, dass das auf Kennedy gelang!
Doch es gilt weiter zu fragen. Was macht die Tat Hitlers so grenzenlos verwerflich? Judenpogrome hat es in der Geschichte wieder und wieder gegeben. Das Neue ist, dass mit geradezu industriellen Methoden Völkermord betrieben wurde, dass Menschen, die keinen Hass gegen Juden empfanden (die gab es auch), nur aus Gehorsam am Massenmord schuldig wurden, dass sogar Juden selbst gezwungen wurden, die Mordmaschinerie effizienter zu gestalten. Und Hitler sagte: 'Ich übernehme die Verantwortung.' Eine Verantwortung, die kein Mensch übernehmen kann. Und dagegen Kennedy!
Aber was wäre, wenn die Kubakrise 1962 anders verlaufen wäre, wenn sie zum Dritten Weltkrieg geführt hätte (was selbst John F. Kennedy damals nicht für ausgeschlossen hielt), wie müsste man dann das Ergebnis beurteilen? 500 Millionen Tote, eine Milliarde, zwei Milliarden oder mehr - so hätte das Ergebnis ausgesehen. Und dies verglichen mit den rund 60 Millionen Toten des Zweiten Weltkrieges (eine Zahl, die den grauenhaften Völkermord an den Juden einschließt). Was ist schrecklicher, welches Ergebnis wäre für die Menschheit folgenschwerer? Und wer wäre daran schuld? Kennedy, der ohne Zweifel den Krieg nicht wollte, der ihn vielmehr durch eine Demonstration der Stärke unwahrscheinlicher machen wollte? Chrustschow, der den Krieg ebenfalls nicht wollte, der nur die Ausgangsposition der Sowjetunion verbessern wollte, aus seiner Sicht das Ungleichgewicht zugunsten der USA etwas verringern wollte? Oder die Soldaten, die ihre Befehle befolgten? Wer wäre schuld, wenn morgen durch einen Computerfehler der atomare Schlagabtausch ausgelöst würde? Der Mann am Terminal, der den Fehler nicht erkennt? Die Programmierer, die nicht verhindert haben, dass solch ein Fehler zustandekommen konnte?
Wir sehen, das System der atomaren Abschreckung schafft eine Verantwortung, die kein Mensch übernehmen kann. Mehr noch: Jeder Mensch, der für dieses System mitverantwortlich ist, trägt eine Verantwortung, die ungeheuerlicher ist als selbst die, die Hitler frevlerischerweise zu übernehmen versprach.
Jeder, der in diesem System verantwortlich ist und nicht alles tut, um für Entspannung zu sorgen und es wieder abzubauen - so wie der Parteisekretär Gorbatschow es ein Stück getan hat - trägt mit an einer Verantwortung, die kein Mensch trage kann. Könnte die Menschheit sie tragen? Im Blick auf alle kommende Generationen, die mit untergingen?
Kein Zweifel daran, dass Kennedy und MacMillan moralischer waren als Hitler. Doch es ist unwahrscheinlich, dass die, die für den Dritte Weltkrieg verantwortlich sein werden, unmoralischer sein werden. - Wer heute verantwortlich handelt, muss dazu beitragen, die Verantwortung, die er selbst und die künftige Generation haben werden, wieder auf ein menschliches Maß zurückzuführen.
Aber Sie und ich, wir brauchen uns nicht darum zu kümmern?
(Dieser Text ist der zweite in einer Artikelserie über Fortschritt und Verantwortung im Londoner Boten Hefte Nr. 7 und 8-9/1989)
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