Freitag, 18. März 2011

Vom Fortschrittsoptimismus zur Selbstbesinnung

 
Sie kennen sicher die Science-Fiction­Vorstellung  vom Zeitreisenden: Mit Hilfe einer Zeitmaschine können Men­schen der Zukunft in die Vergangenheit reisen. Dann kennen Sie wahrscheinlich auch die Überlegung, die seit Spielbergs Film 'Back to the Future' für viele selbstverständliches Gedankengut geworden ist, nämlich, dass der Zeitreisende durch Eingriffe in die Vergangenheit seine eigene Gegenwart und damit sich selbst zerstört. Brutal in der Vorstellung, er töte einen seiner Vorfahren, subtiler in der Vorstellung, er steche seinen eigenen Vater als Liebhaber der Mutter aus (so bei Spielberg) und psychologisch gewendet in Frischs Stück 'Biografie', wo der Mann seine Biographie trotz des ihm gegebenen Angebots nicht verändern kann, weil er letztlich als der, der er geworden ist, die anderen Möglichkeiten, trotz allen Klagens über versäumte Chancen, dann doch nicht wollen kann.
Was für die Biographie eines einzelnen nur (?) ein Spiel ist, ist eine bedenkenswerte geschichtsphilosophische Vorstellung für die gesamte Menschheit: Wenn es im Jahre 4000 n.Chr. Menschen geben sollte, dann könnten die nicht sinnvoll eine Änderung der Geschichte im Jahre 2000 n.Chr. wollen, da sie ihre eigene Existenz aufhöbe. Insofern wird jede Epoche die bisherige Geschichte als Vorgeschichte ihrer eigenen begreifen. Gleichzeitig erweist sich aber die Vorstellung, den Sinn der Geschichte an sich erkennen zu wollen oder gar erkannt zu haben (wie etwa bei Hegel und Marx) als lächerliche Selbstüberschätzung, als Hybris. Wir können stets nur den Sinn der Geschichte für uns erkennen.
In der Formulierung 'Wenn es im Jahre 4000 n.Chr. Menschen geben sollte ..', steckt eine wesentliche Erfahrung unserer Tage. Früher hätte man noch formuliert: 'Die Menschen im Jahr 4000 n. Chr  Heute sind wir uns nicht mehr so sicher, ob es im Jahr 4000, 3000 oder 2050 noch Menschen gibt. Diese Erkenntnis über die Fähigkeit der Menschheit, sich selbst zu zerstören, sei es über einen Atomkrieg mit nuklearem Winter oder über die Vernichtung unserer Umwelt, unserer Lebensvoraussetzung, oder schließlich durch Schaffung eines neuen Menschen durch Gentechnologie, hat uns ein neues Selbstverständnis gegeben. Marx' 'Reich der Freiheit', die Vorstellung freier Selbstverwirklichung, ist uns doppelt fragwürdig geworden: Zum einen, weil der Run auf die Selbstver­wirklichung, der absolute Egotrip, vor unseren Augen schon zu oft durch­geführt worden ist und nicht nur zu vielen gescheiterten Ehen, zu zer­schlagenen Hoffnungen, sondern auch zur großen Sinnleere geführt hat. Zum anderen aber - und das ist weit wichtiger - weil es unsere Überfluss­gesellschaft, die Gesellschaft, die Herbert Marcuse und seine Anhänger der Studentenbewegung von 1968 noch für die allgemeine Gesellschaft der Zukunft gehalten hatten, nur aufgrund einer doppelten Ausbeutung gibt: der der Dritten Welt und der der Rohstoff­ und Energiereserven der Erde.
Nun gibt es genügend Menschen, die - trotz rund 60 Millionen Hungertoten im Jahr (das sind ebensoviel wie alle Opfer des 6 Jahre dauernden 2.Welt­krieges) - bestreiten würden, dass die Dritte Welt ausgebeutet wird. Deshalb verfolge ich dieses Argument nicht weiter, obwohl ich glaube, dass diese Menschen nichts sind als 'reiche Jünglinge', die durch ihren Reichtum am Erkennen der Wahrheit gehindert werden; 'denn er hatte viele Güter...'.
Unbestreitbar aber ist die Ausbeutung der Erde. Auch hier lässt sich, um das Bestehende zu rechtfertigen, argumen­tieren, die Rohstoffkrise werde nie eintreten, weil die Wissenschaft immer rechtzeitig vor dem Ausgehen eines Rohstoffes 'neue, bessere an seine Stelle setzen werde. Viele sind ja trotz Tschernobyl noch der Meinung, das Erdöl sei als Energiequelle längst durch die Kernspaltung ersetzbar und Energiesparen sei sinnlose Askese, die Suche nach umweltfreundlichen Energien sei Zeitverschwendung. Eins aber wird heute nicht mehr ernsthaft bestritten: Die Umweltkosten moderner Technik wurden bei den Vorstellungen von der Überflussgesellschaft nicht eingerechnet. Wer etwa einen Teil des deutschen Waldes noch retten will, muss dafür Milliardensummen ausgeben, wer das nicht tut, zahlt einen noch höheren Preis.
Aus dieser Erkenntnis, dass der Fortschritt, den wir vorantreiben, ungeheure negative Folgen hat, die es zu begrenzen gilt, hat sich die Bewegung der Umweltinitiativen, die in die grünen Parteien mündeten, entwickelt. Wir können ungeheuer viel mehr machen als früher, und wir sehen Folgen dieses Tuns für eine weite Zu­kunft voraus (bei der Kernspaltung geht es um Tausende und Hunderttau­sende von Jahren, für die wir höchst­gefährlichen Müll produzieren). Deshalb muss Verantwortung für uns zu einer zentralen moralischen Kategorie werden. Wir dürfen nicht mehr nach dem Grundsatz verfahren: Ich weiß nicht, ob es besser wird; aber ich weiß, dass es anders werden muss, wenn es gut werden soll. Sondern wir dürfen nur noch das Verantwortbare tun. Man hat von dem Auslösecharakter unseres Handelns gesprochen. Unser Tun und der Effekt, den es hat, haben für uns zunächst keinen erkennbaren Zusammen­hang. Der Gebrauch eines morgendlichen Deo‑Sprays und die Zerstörung der Ozonschicht unserer Atmosphäre wurde lange nicht im Zusammenhang gesehen. Was alles für die Zerstörung des Waldes verantwortlich ist, wissen wir immer noch nicht. Wer verantwortlich ist, nämlich wir Menschen, das wissen wir schon länger.
Diese Erkenntnis der Gefährlichkeit des Fortschritts hat uns dazu geführt, dass wir die Wertsetzungen bewahrender Gesellschaften zu schätzen lernten: der Indianer ('Jeder Teil dieser Erde ist meinem Volk heilig'), der Afrikaner (Sich-Einsfühlen mit der Natur) und der Chinesen (u.a. auch der Taoisten, die folgerecht das 'Nicht­Handeln' zur obersten  Tugend erklärten).

(Dieser Text war Teil meiner Artikelserie im "Londoner Boten" von 1989.)

Moral und Verantwortung

Kennedy und MacMillan 'sind noch um vieles ärger als Hitler'. Dies Wort des Philosophen Bertrand Russell vom 15.4.1961 ist erschreckend. Wie kann er diese demokratischen, überdies an hohen Idealen sich ausrichtenden Politiker mit dem Diktator vergleichen, der für den schrecklichsten Völkermord der Geschichte verantwort­lich ist? Natürlich hat er Unrecht. Jedenfalls, soweit es um die moralische Wertung geht. Denn Hitler hat den Völkermord gewollt, Kennedy aber hat den Weg in eine demokrati­sche, soziale Gesellschaft gewiesen. Wie tragisch, dass die Attentate auf Hitler scheiterten, dass das auf Kennedy gelang!
Doch es gilt weiter zu fragen. Was macht die Tat Hitlers so grenzenlos verwerflich? Judenpogrome hat es in der Geschichte wieder und wieder gegeben. Das Neue ist, dass mit geradezu industriellen Methoden Völkermord betrieben wurde, dass Menschen, die keinen Hass gegen Juden empfanden (die gab es auch), nur aus Gehorsam am Massenmord schuldig wurden, dass sogar Juden selbst gezwungen wurden, die Mordmaschinerie effizienter zu gestalten. Und Hitler sagte: 'Ich übernehme die Verantwortung.' Eine Verantwortung, die kein Mensch über­nehmen kann. Und dagegen Kennedy!
Aber was wäre, wenn die Kubakrise 1962 anders verlaufen wäre, wenn sie zum Dritten Weltkrieg geführt hätte (was selbst John F. Kennedy damals nicht für ausgeschlossen hielt), wie müsste man dann das Ergebnis beurteilen? 500 Millionen Tote, eine Milliarde, zwei Milliarden oder mehr - so hätte das Ergebnis ausgesehen. Und dies verglichen mit den rund 60 Millionen Toten des Zweiten Weltkrieges (eine Zahl, die den grauenhaften Völkermord an den Juden einschließt). Was ist schrecklicher, welches Ergebnis wäre für die Menschheit folgenschwerer? Und wer wäre daran schuld? Kennedy, der ohne Zweifel den Krieg nicht wollte, der ihn vielmehr durch eine Demonstra­tion der Stärke unwahrscheinlicher machen wollte? Chrustschow, der den Krieg ebenfalls nicht wollte, der nur die Ausgangsposition der Sowjetunion verbessern wollte, aus seiner Sicht das Ungleichgewicht zugunsten der USA etwas verringern wollte? Oder die Soldaten, die ihre Befehle befolgten? Wer wäre schuld, wenn morgen durch einen Computerfehler der atomare Schlagabtausch ausgelöst würde? Der Mann am Terminal, der den Fehler nicht erkennt? Die Programmierer, die nicht verhindert haben, dass solch ein Fehler zustandekommen konnte?
Wir sehen, das System der atomaren Abschreckung schafft eine Verantwortung, die kein Mensch übernehmen kann. Mehr noch: Jeder Mensch, der für dieses System mitverantwortlich ist, trägt eine Verantwortung, die ungeheuerlicher ist als selbst die, die Hitler frevlerischerweise zu übernehmen versprach.
Jeder, der in diesem System verantwortlich ist und nicht alles tut, um für Entspannung zu sorgen und es wieder abzubauen - so wie der Parteisekretär Gorbatschow es ein Stück getan hat - trägt mit an einer Verantwortung, die kein Mensch trage kann. Könnte die Menschheit sie tragen? Im Blick auf alle kommende Generationen, die mit untergingen?
Kein Zweifel daran, dass Kennedy und MacMillan moralischer waren als Hitler. Doch es ist unwahrscheinlich, dass die, die für den Dritte Weltkrieg verantwortlich sein werden, unmoralischer sein werden. - Wer heute verantwortlich handelt, muss dazu beitragen, die Verantwortung, die er selbst und die künftige Generation haben werden, wieder auf ein menschliches Maß zurückzuführen.
Aber Sie und ich, wir brauchen uns nicht darum zu kümmern?
(Dieser Text ist der zweite in einer Artikelserie über Fortschritt und Verantwortung im Londoner Boten  Hefte Nr. 7 und 8-9/1989)