Samstag, 24. Februar 2024

Tag der deutschen Einheit 1990

 Walter spricht:

Ein Kindheitstraum ist uns in Erfüllung gegangen. Wie das aber Träume so an sich haben: die Erfüllung ist weniger schön, als die Vorstellung sie sich ausmalte. Zu viele Sorgen sind damit verbunden, zuviel Verärgerung über manches, was hätte anders laufen sollen, zu unrealistisch waren die kindlichen Hoffnungen: wir sind alle zusammen, die politischen Zwänge gibt es nicht mehr, natürlich sind alle Personen, die einem in der Kindheit wichtig waren, dabei, um es mitzuerleben.
Schließlich hat man inzwischen auch schon lange gewußt, daß der Tag kommen würde und daß er an den Problemen vorerst nur wenig ändern würde. So waren Christa und ich gestern auch wenig gestimmt, zu feiern.
Und doch, es ist ein großer Tag, es ist ein wichtiger Vorgang, und über alles Erwarten glückliche Entwicklungen finden ihren Abschluß.
So waren wir auch dankbar, daß unsere Kinder uns dann doch noch zum Feiern brachten: Martin, indem er darauf bestand, bis um 24.00 Uhr, zur Einigungsminute, aufzubleiben, Monika, indem sie in melancholischer Resignation bedauerte, nicht bis in die Einheit hineinfeiern zu dürfen. So haben wir dann doch unsere Mädchen geweckt und zu fünft Wunderkerzen in die Nacht gehalten.
Beziehungsreich war für uns der Tag, da an ihm die letzten Sachen vom Lager zurückkamen, die wir vor elf Jahren dorthin gegeben hatten. Auch eine Wiedervereinigung mit Vertrautem, wovon wir lange getrennt waren: das alte Wilhelm-Busch-Album, das Reineke-FuchsBuch, meine Schülerzeichnungen, vor allem aber meine Ritter. Aber auch Spiele, z.B. das alte Tischkegelspiel, Großvater Böhmes Buch über Kloster Donndorf, die Familienbibel von Joachim und Helene Böhme u.a.. Martin meinte, als die Spiele auftauchten, das sei wie oder gar noch schöner als Weihnachten, weil manches auftauchte, was man sich gar nicht gewünscht, womit man gar nicht gerechnet hatte. (Da war es dann auch nicht so schlimm, daß manche gute Bücher durch Feuchtigkeit verdorben sind. Was hilft schon Reklamieren.) Am unerwartetsten, aber höchst passend tauchte die Titelseite der satirischen Zeitung "Pardon" auf, auf der es - in Kritik am Gerede von der "sogenannten DDR" - hieß: "Endlich bewiesen: Es gibt keine DDR. Kein Päckchen nach drüben." - Als ich diese Titelseite aufhob, war mein Kindheitstraum gewiß schon ausgeträumt. Ich glaubte nicht mehr daran, daß ich noch erleben würde, daß er wahr wird.
Jetzt ist es so weit.
Päckchen nach drüben? Tatsächlich, es hat sich alles verändert. Es lohnt sich nicht mehr, Apfelsinen zu schicken, Schokolade oder Kaffee. Jetzt können es plötzlich Bücher sein oder man selbst.
Und zum Glück haben wir damit ja auch schon ein wenig angefangen.

Monika spricht:
Ich will unbedingt den Fernsehfilm über die Teilung sehen. -
Es gibt ja keine DDR mehr, aber die Taschenlampe kommt trotzdem aus der DDR. Da will ich sie gut aufheben als Andenken.
(Walter: Ähnlich habe ich gedacht von den vielen Büchern, die jetzt eingestampft worden sind. Die Kunstbände waren gewiß wertvoll, und manches wäre auch ein schönes Andenken, z.B. Schulbücher.)
Walter:
Soeben erreicht uns ein Anruf von Günter aus unserer Hauptstadt. Wir aus der Provinz kommen nicht zu ihm durch.

(verfasst wurde der Text am 3.10.1990, vermutlich recht bald darauf an Verwandte und bekannte verschickt, in diesem Blog in dieser Form festgehalten erst am  24.2.2024)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen