Walter spricht:
Ein
Kindheitstraum ist uns in Erfüllung gegangen. Wie das aber Träume
so an sich haben: die Erfüllung ist weniger schön, als die
Vorstellung sie sich ausmalte. Zu viele Sorgen sind damit verbunden,
zuviel Verärgerung über manches, was hätte anders laufen sollen,
zu unrealistisch waren die kindlichen Hoffnungen: wir sind alle
zusammen, die politischen Zwänge gibt es nicht mehr, natürlich sind
alle Personen, die einem in der Kindheit wichtig waren, dabei, um es
mitzuerleben.
Schließlich
hat man inzwischen auch schon lange gewußt, daß der Tag kommen
würde und daß er an den Problemen vorerst nur wenig ändern würde.
So waren Christa und ich gestern auch wenig gestimmt, zu feiern.
Und
doch, es ist ein großer Tag, es ist ein wichtiger Vorgang, und über
alles Erwarten glückliche Entwicklungen finden ihren Abschluß.
So
waren wir auch dankbar, daß unsere Kinder uns dann doch noch zum
Feiern brachten: Martin, indem er darauf bestand, bis um 24.00 Uhr,
zur Einigungsminute, aufzubleiben, Monika, indem sie in
melancholischer Resignation bedauerte, nicht bis in die Einheit
hineinfeiern zu dürfen. So haben wir dann doch unsere Mädchen
geweckt und zu fünft Wunderkerzen in die Nacht
gehalten.
Beziehungsreich
war für uns der Tag, da an ihm die letzten Sachen vom Lager
zurückkamen, die wir vor elf Jahren dorthin gegeben hatten. Auch
eine Wiedervereinigung mit Vertrautem, wovon wir lange getrennt
waren: das alte Wilhelm-Busch-Album, das Reineke-FuchsBuch, meine
Schülerzeichnungen, vor allem aber meine Ritter. Aber auch Spiele,
z.B. das alte Tischkegelspiel, Großvater Böhmes Buch über Kloster
Donndorf, die Familienbibel von Joachim und Helene Böhme u.a..
Martin meinte, als die Spiele auftauchten, das sei wie oder gar noch
schöner als Weihnachten, weil manches auftauchte, was man sich gar
nicht gewünscht, womit man gar nicht gerechnet hatte. (Da war es
dann auch nicht so schlimm, daß manche gute Bücher durch
Feuchtigkeit verdorben sind. Was hilft schon Reklamieren.) Am
unerwartetsten, aber höchst passend tauchte die Titelseite der
satirischen Zeitung "Pardon" auf, auf der es - in Kritik am
Gerede von der "sogenannten DDR" - hieß: "Endlich
bewiesen: Es gibt keine DDR. Kein Päckchen nach drüben." - Als
ich diese Titelseite aufhob, war mein Kindheitstraum gewiß schon
ausgeträumt. Ich glaubte nicht mehr daran, daß ich noch erleben
würde, daß er wahr wird.
Jetzt
ist es so weit.
Päckchen
nach drüben? Tatsächlich, es hat sich alles verändert. Es lohnt
sich nicht mehr, Apfelsinen zu schicken, Schokolade oder Kaffee.
Jetzt können es plötzlich Bücher sein oder man selbst.
Und
zum Glück haben wir damit ja auch schon ein wenig
angefangen.
Monika
spricht:
Ich
will unbedingt den Fernsehfilm über die Teilung sehen. -
Es
gibt ja keine DDR mehr, aber die Taschenlampe kommt trotzdem aus der
DDR. Da will ich sie gut aufheben als Andenken.
(Walter:
Ähnlich habe ich gedacht von den vielen Büchern, die jetzt
eingestampft worden sind. Die Kunstbände waren gewiß wertvoll, und
manches wäre auch ein schönes Andenken, z.B.
Schulbücher.)
Walter:
Soeben
erreicht uns ein Anruf von Günter aus unserer Hauptstadt. Wir aus
der Provinz kommen nicht zu ihm durch.
(verfasst wurde der Text am 3.10.1990, vermutlich recht bald darauf an Verwandte und bekannte verschickt, in diesem Blog in dieser Form festgehalten erst am 24.2.2024)
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