Sonntag, 8. September 2024

Paradoxien unserer Demokratie

Demokratie

Unter Demokratie stellt man sich einen Staat vor, in dem "jeder Bürger die Möglichkeit erhält, an der Reform von Staat und Gesellschaft mitzuwirken" (Willy Brandt, 1969).

Gegenwärtig dienen alle „Reformen“ nur der Finanzierung der Steuerentlastung für Unternehmen. 
Bis tief in die 80er Jahre gab es eine Partei, die gegen diese Tendenzen angekämpft hat. Von ihrem Parteivorsitzenden Brandt stammt das Wort "Wir wollen mehr Demokratie wagen." Diese Partei gibt es nicht mehr.

Denn inzwischen ist der Gedanke an Demokratie eine Horrorvorstellung für jeden, der noch versucht, in der BRD Politik zu gestalten. Denn Demokratie ist mit unserer Art von Wirtschaftsorganisation nicht vereinbar. 
Aber in vielen europäischen Staaten ist das Interesse an Demokratie noch frisch. Es gibt also noch Hoffnung. (20.6.04)

Paradoxien unserer Demokratie  

16.1.05:
 Die SPD gewinnt wieder an Popularität. Dadurch liegen jetzt Rot-Grün und Schwarz-Gelb wieder etwa gleichauf und die politische Ungerechtigkeit, dass die Union Stimmen gewinnt, weil die SPD das tut, was die Union auch will, ist im Augenblick aus dem Weg geschafft. Diese Ungerechtigkeit war freilich auf eine politisch sinnvolle und angemessene Reaktion der SPD-Wähler zurückzuführen. Denn diese haben sich (zum Teil) von der Partei abgewandt, weil sie nicht mehr die Positionen vertreten hat, wegen derer sie 1998 gewählt worden war und die das Charakteristikum der SPD darstellten, nämlich: die Interessen der sozial Schwächeren gegen die Starken zu vertreten. Weil einerseits eine politische Ungerechtigkeit vorlag und andererseits die Wähler sich völlig richtig im Sinne von Demokratie als Interessenvertretung des Volkes verhalten haben, ist der Vorgang nicht einfach zu bewerten. Einerseits hätte ein konsequentes Durchhalten der Position „Die SPD vertritt nicht meine Position. Also kann ich sie nicht wählen.“ dazu geführt, dass die Partei an die Macht gekommen wäre, die noch mehr gegen die Interessen der verärgerten SPD-Wähler handelte. Das wäre eindeutig gegen das Interesse dieser Wähler. Andererseits wären Sie mit einer Unionsregierung wieder in der Lage gewesen, ihrer Meinung Ausdruck zu verleihen, indem sie eine Partei wählen, die gegen die Politik auftritt, die sie, diese Wähler, ablehnen. Im Sinne von Demokratie wäre dieser Vorgang freilich nicht eigentlich. Denn die Entscheidung, im Sinne der eigenen Position zu wählen, hätte ja dazu geführt, dass die Position, die man ablehnt, gestärkt wurde.  Dass Wähler in eine solche Zwangslage geraten, liegt daran, dass wir uns gegenwärtig in einer Zwei-Lager-Konstellation befinden. Schwächung des einen Lagers bedeutet Stärkung des anderen. Dies wiederum ist darauf zurückzuführen, dass die Partei links von der SPD für die meisten Wähler nicht wählbar ist.  Das entsprechende Dilemma stellt sich übrigens auf der anderen Seite. Wähler, denen der Kurs von Union und FDP nicht rechts genug ist, die aber nicht rechtsradikal wählen wollen, werden durch Wahlenthaltung das rot-grüne Lager stärken. Dass die Konstellationen so sind, hilft freilich zur Reformfähigkeit von Demokratie. Parteien können sich nämlich leisten, auch unpopuläre Maßnahmen zu vertreten, solange die Wähler, die sie mit ihren Maßnahmen verprellen, keine Wahlalternative haben. Nur wird es immer dann problematisch, wenn die Reformen in eine Richtung führen müssten, die in beiden Volksparteien keine Lobby haben. Aus dem Dilemma hat einmal die Parteigrün­dung der Grünen geholfen. Die Belange der Umwelt werden inzwischen etwas stärker wahrgenommen. Es fehlt freilich eine Partei, die für die Belange der Einen Welt eintritt. (globale Gerechtigkeit) So kommt es zu der Paradoxie, dass die einzigen, die sich für globale Belange einsetzen, als „Globalisierungsgegner“ bezeichnet werden. Die Situation ist nicht nur frustrierend, sondern auch kompliziert. Nicht eben übersichtlicher wird sie dadurch, dass wir in Deutschland materiell enorm davon profitieren, dass es auf der Welt ungerecht zugeht. So heißt Eintreten für die langfristigen Interessen (Gerechtigkeit) Handeln gegen die kurzfristigen eigenen Interessen. Doch das ist ja nicht ungewöhnlich. 

Erschreckend die Parallele der heutigen Situation mit den Vorgängen von 1929/30:
Zum einen, dass die „schwerindustriellen Gruppen die Chance zu dem Versuch, das Rad der deutschen Geschichte wieder zurückzudrehen [sahen], wobei [...] die Rückkehr zu einem rein privatkapitalistischen Wirtschaftssystem unter radikaler Beschneidung der sozialpolitischen Errungenschaften des letzten Jahrzehnts als Ziel vorschwebte“ 
„Der Reichskanzler nahm dabei die zeitweise Verelendung immer größerer Gruppen des deutschen Volkes ebenso in Kauf wie die politische Radikalisierung auf der Rechten, die er zuversichtlich sogar noch in sein politisches Kalkül einbauen zu können glaubte.“
„Tatsächlich aber konnten solche widersprüchlichen wirtschaftspolitischen Doktrinen überhaupt nur Anklang finden, weil die Regierung und die demokratischen Parteien jede Orientierung verloren hatten und BRÜNING es für müßig hielt, sich konsequent um Verständnis für seine Politik bei den breiten Schichten des Volkes zu bemühen. Im Gegenteil, der Reichskanzler hielt es sogar für eine Tugend, keine Rücksicht auf die Stimmung der breiten Massen zu nehmen.“ (Alle Zitate aus: Wolfgang Mommsen: 1933. Die Flucht in den Führerstaat, in: Wendepunkte deutscher Geschichte 1848-1990, hg. C. Stern u. H.A. Winkler, Frankfurt 1994, S.127 ff.) 
Man ersetze Reichskanzler durch Bundeskanzler und Brüning durch Schröder und setze den Text in die Gegenwart. Er passt erschreckend gut, auch wenn wir von Schröder zu wissen glauben, dass er sich mehr an der öffentlichen Meinung orientiert als daran, was in der gegebenen Situation die angemessene Politik ist. (19.9.04)

Samstag, 24. Februar 2024

Tag der deutschen Einheit 1990

 Walter spricht:

Ein Kindheitstraum ist uns in Erfüllung gegangen. Wie das aber Träume so an sich haben: die Erfüllung ist weniger schön, als die Vorstellung sie sich ausmalte. Zu viele Sorgen sind damit verbunden, zuviel Verärgerung über manches, was hätte anders laufen sollen, zu unrealistisch waren die kindlichen Hoffnungen: wir sind alle zusammen, die politischen Zwänge gibt es nicht mehr, natürlich sind alle Personen, die einem in der Kindheit wichtig waren, dabei, um es mitzuerleben.
Schließlich hat man inzwischen auch schon lange gewußt, daß der Tag kommen würde und daß er an den Problemen vorerst nur wenig ändern würde. So waren Christa und ich gestern auch wenig gestimmt, zu feiern.
Und doch, es ist ein großer Tag, es ist ein wichtiger Vorgang, und über alles Erwarten glückliche Entwicklungen finden ihren Abschluß.
So waren wir auch dankbar, daß unsere Kinder uns dann doch noch zum Feiern brachten: Martin, indem er darauf bestand, bis um 24.00 Uhr, zur Einigungsminute, aufzubleiben, Monika, indem sie in melancholischer Resignation bedauerte, nicht bis in die Einheit hineinfeiern zu dürfen. So haben wir dann doch unsere Mädchen geweckt und zu fünft Wunderkerzen in die Nacht gehalten.
Beziehungsreich war für uns der Tag, da an ihm die letzten Sachen vom Lager zurückkamen, die wir vor elf Jahren dorthin gegeben hatten. Auch eine Wiedervereinigung mit Vertrautem, wovon wir lange getrennt waren: das alte Wilhelm-Busch-Album, das Reineke-FuchsBuch, meine Schülerzeichnungen, vor allem aber meine Ritter. Aber auch Spiele, z.B. das alte Tischkegelspiel, Großvater Böhmes Buch über Kloster Donndorf, die Familienbibel von Joachim und Helene Böhme u.a.. Martin meinte, als die Spiele auftauchten, das sei wie oder gar noch schöner als Weihnachten, weil manches auftauchte, was man sich gar nicht gewünscht, womit man gar nicht gerechnet hatte. (Da war es dann auch nicht so schlimm, daß manche gute Bücher durch Feuchtigkeit verdorben sind. Was hilft schon Reklamieren.) Am unerwartetsten, aber höchst passend tauchte die Titelseite der satirischen Zeitung "Pardon" auf, auf der es - in Kritik am Gerede von der "sogenannten DDR" - hieß: "Endlich bewiesen: Es gibt keine DDR. Kein Päckchen nach drüben." - Als ich diese Titelseite aufhob, war mein Kindheitstraum gewiß schon ausgeträumt. Ich glaubte nicht mehr daran, daß ich noch erleben würde, daß er wahr wird.
Jetzt ist es so weit.
Päckchen nach drüben? Tatsächlich, es hat sich alles verändert. Es lohnt sich nicht mehr, Apfelsinen zu schicken, Schokolade oder Kaffee. Jetzt können es plötzlich Bücher sein oder man selbst.
Und zum Glück haben wir damit ja auch schon ein wenig angefangen.

Monika spricht:
Ich will unbedingt den Fernsehfilm über die Teilung sehen. -
Es gibt ja keine DDR mehr, aber die Taschenlampe kommt trotzdem aus der DDR. Da will ich sie gut aufheben als Andenken.
(Walter: Ähnlich habe ich gedacht von den vielen Büchern, die jetzt eingestampft worden sind. Die Kunstbände waren gewiß wertvoll, und manches wäre auch ein schönes Andenken, z.B. Schulbücher.)
Walter:
Soeben erreicht uns ein Anruf von Günter aus unserer Hauptstadt. Wir aus der Provinz kommen nicht zu ihm durch.

(verfasst wurde der Text am 3.10.1990, vermutlich recht bald darauf an Verwandte und bekannte verschickt, in diesem Blog in dieser Form festgehalten erst am  24.2.2024)